Guten Abend, sehr geehrte Damen und Herren,

beim heutigen Treffen von OWLdigital soll es um unsere Gesundheit in Zeiten eines alles durchdringenden Internets gehen.

Die Auswirkungen, die das hat und haben wird, sind teilweise schon greifbar, wie ich zeigen werde, zum großen Teil jedoch, und auch darüber werden wir diskutieren können, zeichnen sie sich gerade erst ab. Das ist, wie ich meine, ein guter Zeitpunkt, sich darüber Gedanken zu machen, welche Chancen das für uns alle hat, welche Möglichkeiten sich auftun und auch, woran wir denken müssen, damit unsere Werte von Freiheit, Gleichheit und Solidarität Bestand haben können.

Wegen der vielen Aspekte dieses bedeutenden Themas habe ich mir Gedanken darüber gemacht, wie ich Ihnen einige wichtige Punkte am besten nahebringen kann.

Schließlich habe ich mich, ganz langweilig, für eine niedergeschriebene Rede entschieden, um nicht den Faden zu verlieren und auch, ganz web 2.0, um mit Ihnen diesen Inhalt mitsamt den Quellen teilen zu können. Sie finden ihn spätestens morgen auf meinem blog zum Nachlesen und zur weiteren Diskussion.

Ein anderer Grund ist, daß ich „nur“ Zahnarzt bin und vermutlich zu einer der medizinischen Fachrichtungen gehöre, die zuletzt 2.0 werden. Viele der Themen, über die wir heute Abend reden können, gehören in den Bereich der Allgemeinmedizin und IT, nicht der Zahnmedizin.

Wie gesagt, man mag diskutieren, wann Zahnmedizin 2.0 sein wird, doch finde ich es spannend zu erleben, wie in meinem Fach diese Veränderungen näher kommen, allein weil sie eine so hohe Präsenz in allen anderen Lebensbereichen haben.

Und also spreche ich hier von Veränderungen und Beispielen, die mir zwar bei meinen Patienten geläufig sind, die aber zunächst nicht Teil meines Alltags sind.

Ein paar Schätzungen vorab1:

2017 wird ungefähr die Hälfte aller 3,4 Milliarden Smartphone/ Tabletbenutzer weltweit wenigstens eine Healthapp benutzen.

2017 werden wenigstens 30% der Amerikaner ein Wearable benutzen, um ihre Fitness und/ oder Gesundheitsdaten aufzuzeichnen.

Nutzen wir die Möglichkeiten der Digitalisierung konsequent, könnte diese 25-30% der heutigen Arztbesuche ablösen.

Die Menschen, die Healthapps und Wearbles benutzen, erwarten mit Recht, daß wir Ärzte sie dabei unterstützen.

Natürlich ist es legitim, vor dem unreflektierten Einsatz dieser Apps zu warnen2, wie dies meine Bundeszahnärztekammer in einer Pressemitteilung im August 2015 tat. Ihr kann ich auch entgegnen, daß möglicherweise nicht die Industrie, sondern staatliche Einrichtungen und Geheimdienste es sind, deren Gier nach diesen Daten jeglichen Respekt vor dem Individuum beiseiteschiebt3.

Ethische Bedenken oder den Gefahrennarrativ als Vorwand und Ausrede zu benutzen, um sich den Möglichkeiten zu verweigern, die Healthapps bieten, entspricht nicht den Prinzipien verantwortungsvoller Ausübung des Arztberufs4.

Der Arzt des 21. Jahrhunderts hat die Pflicht, sich mit neuen Technologien und deren Implikationen zum Wohle seines Patienten auseinanderzusetzen. Er hat übrigens auch das Recht, dies honoriert zu bekommen.

Merken Sie etwas:

mir ist das wirklich wichtig :-)!
Deswegen will ich heute Abend mit Ihnen einige Gedanken teilen.

Zunächst über die notwendigen Veränderungen in der Medizin selbst, dann über den Wandel im Verhältnis zwischen Patient und Arzt.

Sie werden hören, was ich von den Versuchen der Digitalisierung der Medizin hierzulande halte.

Natürlich gehören Aspekte der Datensicherheit und Datensouveränität wesentlich mit dazu.

Schließlich: anhand einiger weniger Erkrankungen möchte ich zeigen, welche Möglichkeiten Apps und Sensoren bieten, um die Gesundheit oder die Lebensqualität zu verbessern.

In den vergangenen 150 Jahren hat die Medizin unser aller Lebenserwartung und – qualität vor allem durch die erfolgreiche Behandlung von Infektionskrankheiten erheblich verbessern können. Hier ist die Therapie meist relativ simpel: es gibt eine Ursache, eine bestimmte Verletzung oder einen bestimmten Erreger. Dafür haben wir eine etablierte Behandlungsmethode und ein gut zu erreichendes Ergebnis. Damit haben wir unser Leben so sicher gemacht, daß Infekte heute kaum noch eine Ursache für Todesfälle sind – zumindest in Ländern der Ersten Welt.

Seit dieser Errungenschaft haben in den letzten 50 Jahren nicht-ansteckende Krankheiten (Krebs, Diabetes, Multiple Sklerose, Demenz etc.) an Bedeutung gewonnen.

Unterschiede zu Infektionskrankheiten sind etwa:
– fließende oder unscharfe Grenzen zwischen gesund und krank- wie bei der Demenz – eine sehr individuelle Wechselwirkung zwischen der genetischen Veranlagung eines

Menschen, seiner Konstitution und der Umwelt – zum Beispiel bei multipler Sklerose und Diabetes – verschiedene Risikofaktoren haben geringe unterschiedliche Effekte – warum bekommt ein Raucher Krebs oder einen Nichtraucher einen Schlaganfall und ein anderer nicht?

Um das verstehen zu können, gibt es die Systemtheorie. In ihr untersuchen wir komplizierte Beziehungen zwischen einzelnen Objekten. Das können einzelne Organe oder Körperteile sein, aber eben auch ein Mensch mit seinen Genen in seiner Umwelt.

Um das zu beschreiben, benutzt man komplexe mathematische Modelle und, für die Simulation, die Leistung von Großrechnern.

Für Ärzte ist es neu, aber wenn wir diese Wechselwirkungen, die zu krankhaften Veränderungen führen können, verstehen wollen, dann müssen wir den Austausch mit IT- Spezialisten, Systemanalytikern und Mathematikern im Interesse der Gesundheit suchen. Denn als Menschen können wir höchstens drei Variablen miteinander in Beziehung setzen, eine Maschine beherrscht tausende.

Also versuchen wir heute den Mensch mit seinen Genen, seinen Organen und Körperfunktionen in konstanter Interaktion mit seiner Umwelt zu verstehen.

Es leuchtet ein, daß das viel komplizierter ist. Und eben auch sehr viel individueller:

Wenn wir wissen wollen, warum ein Raucher an Lungenkrebs erkrankt und ein anderer nicht, dann müssen wir eine Unmenge von verschiedenen Faktoren beachten. Jeder von uns weiß, daß nicht jeder, der zwanzig Zigaretten am Tag raucht, Krebs bekommen muß. Woran liegt das?

Eben um das verstehen zu können, brauchen wir Daten, die dann eben nicht alle möglichen Variablen, wie bei konventionellen medizinischen Studien, ausschalten, sondern diese mit einbeziehen.

Statistisch ist es einfach: je mehr, desto besser. Das heißt, je mehr Menschen (erkrankt oder nicht) möglichst viele ihrer Gesundheitsdaten teilen, desto besser würde es uns das ermöglichen, diese komplexen und gefährlichen Krankheiten zu verstehen.

Klingt kompliziert, nicht wahr?

Ist es auch.

Und ist gleichzeitig einfach: Indem wir Gesundheitsdaten teilen, kann jeder von uns zum medizinischen Fortschritt beitragen. Das ist ein Novum in der Medizingeschichte.

Medizinischer Fortschritt ist bei den oben genannten Krankheiten besonders nötig, weil sie in einer alternden Gesellschaft immer größere Bedeutung haben- Diabetes, z. B., verzeichnet mit die höchsten Zuwächse5: Mehr als 2/3 der Amerikaner haben heute Übergewicht oder sind fett. 2020 werden die Hälfte von ihnen prädiabetisch sein oder Diabetes haben- mit geschätzten Kosten von 500 Milliarden $ im Jahr6. Die Zahlen für Deutschland sind vergleichbar.

Weil diese Krankheiten individuell außerdem so unterschiedlich verlaufen – zum Beispiel gibt es allein beim Diabetes heute über einhundert verschiedene Formen- ist es auch für den einzelnen Hausarzt, ehrlich gesagt, schwer, im bestehenden Gesundheitssystem mit Fallpauschalen und mangelhafter Kommunikation, auf die Besonderheiten seines Patienten einzugehen.

Hingegen ermöglich das Verständnis der Einzigartigkeit jeder Erkrankung maßgeschneiderte Medikamente und Behandlungen- bei deren Einsatz dann eben auch Zeit und Umgebung berücksichtigt werden können.

Kurz: Medizin 2.0 bedeutet, daß wir Krankheiten personenbezogen beschreiben, erkennen und behandeln.

Stellen wir uns vor, es gäbe eine Plattform für Diabetiker, die es ihnen ermöglicht, ihre Krankheit aktiv mitzubehandeln7:

Der Zugriff auf die eigene Krankenakte ist ebenso möglich wie das Erfassen eigener Gesundheitsdaten oder von Aktivitäten, die Einfluß auf den Blutzuckerspiegel haben. Diese Daten können geteilt werden mit dem Hausarzt, der Empfehlungen aussprechen kann oder, besser noch, mit spezialisierten Zentren der Telemedizin. Besonders hier können mit den Möglichkeiten, die nur das Management großer Datenmengen eröffnet, individuelle Behandlungsstrategien entwickelt und überwacht werden.

Das führt, wenigstens teilweise, zum Wegfall der Aufgabe des Arztes als Interpret der Symptome oder als alleiniger Herr über den Therapieplan. Der Patient kann sich mit seiner Krankheit besser selbst führen, ohne jedoch hilflos zu sein. Dies nennt man Apomediation, übersetzt etwa: das Wegfallen von Vermittlern. Ein anderer, auch von sogenannten Gesundheitsökonomen gern verwendeter Begriff, Empowerment, ist irreführend, weil es eben nicht um eine Ermächtigung geht, sondern um Eigenverantwortung.

In der Konsequenz führt das zu einer besseren Gesundheit des Betroffenen, erleichtert dessen Arzt die Arbeit und verbessert so die Beziehung zwischen Patient und Arzt.

Denn: Überlegen wir weiter: wenn wir für die Diagnose und Therapie dieser Krankheiten viele Daten brauchen, die geteilt werden, dann hat das soziale Implikationen: Weil wir anders miteinander zusammenarbeiten müssen, wird sich das Verhältnis zwischen Patienten und Ärzten, aber auch zur Pharmaindustrie oder auch von Patienten untereinander grundlegend ändern8:

In der Medizin wurden Ärzte als dominierend und autoritär erachtet und die Möglichkeiten des Patienten, eigene Entscheidungen bezüglich seiner Gesundheit zu treffen wurden als störend unterdrückt9.

Dieser Paternalismus wurde im besten Interesse des Patienten als notwendig erachtet10. Der Glaube an die Fähigkeit des Arztes, die besseren Entscheidungen zum Wohle des Patienten zu fällen, verhindert andererseits auch Partnerschaft zwischen den Akteuren im Gesundheitswesen, in der Beziehung zwischen Patient und Arzt, zwischen Ärzten untereinander oder zwischen Ärzten und der Industrie.

Wie wir aber eben gehört haben, ist bei der Behandlung unserer Zivilisationskrankheiten Kommunikation besonders wichtig, eben nicht nur zwischen Patient und Arzt, sondern auch zwischen den verschiedenen Fachrichtungen und auch der Betroffenen untereinander.

Eine Plattform wie patientslikeme.com, zum Beispiel, ermöglicht es

Patienten, sich untereinander auszutauschen, gegenseitig zu helfen oder auch die Hilfe der besten Spezialisten zu bekommen.

Aus meiner Erfahrung – und ich fürchte, jeder von Ihnen wird ähnliche Erlebnisse haben- kann ich Ihnen sagen, daß es Ärzten regelmäßig schwerfällt, zum Wohle ihrer Patienten zu kommunizieren. Die sozialen Implikationen des web2.0 sind für mich deswegen ein Quell der Hoffnung:

Transparenz und Kollaboration müssen Eitelkeiten und Dünkel ablösen.

Das liegt auch daran, daß in der Tat die Krankenakte eines Patienten oder, allgemeiner gesprochen, die Gesundheitsdaten eines Patienten zunächst dem Arzt gehörten.

Diesen Anspruch können wir in der Medizin 2.0 nicht aufrechterhalten.

Es ist unerhört, doch: Hier gehört die elektronische Krankenakte dem Patienten selbst! (wenn er dies so wünscht)

Warum?
Eine Medizin, in der Patienten und Ärzte gleichberechtigte Akteure sind, hat Vorteile:

1. Wenn ich als Patient meine Gesundheitsdaten leicht einsehen kann, ermöglicht es mir das, daß ich ein besseres Verständnis meines Gesundheitszustandes entwickle.

  1. Ich kann Fehler und Irrtümer in diesen Daten erkennen und berichtigen.
  2. Im Krankheitsfall habe ich die Möglichkeit, die Behandlung durch bessere Verfügbarkeit der Daten und einen besseren Datenfluss zwischen Ärzten zu beschleunigen. Ich bin nicht mehr davon abhängig, daß Ärzte über mich als Patienten sprechen, sondern ich kann als Partner mit ihnen kollaborieren und sie zur Kollaboration anhalten.

4. Ich meine, daß zu diesen Daten auch die Abrechnung der erbrachten Leistungen gehört. Wir Zahnärzte sind seit jeher mit guten Gründen Anhänger der Kostenerstattung, die Transparenz in der Abrechnung schützt vor Fehlern und Missverständnissen.

Weiter:

Apps und Algorithmen sind möglicherweise besser darin, komplexe Krankheiten zu behandeln.

Ein Beispiel: eine Patientin, Ende 70, alert und fit, hat Herzprobleme und muß deswegen eine Kombination aus Betablockern und Blutdrucksenkern nehmen. Strikt nach Uhrzeit. Natürlich weiß sie, daß, je nach Tagesform, ihr das mal guttut, sie dann aber auch wieder so herunterfährt, daß sie vor Schwäche und Müdigkeit kaum ihrem Alltag nachkommen kann. Ihr Arzt kann ihr da nicht helfen, weil er heute keine Möglichkeit hat, die unterschiedliche Tagesform zu erfassen oder zu bewerten und das dann in seine Dosierungsempfehlung einzuarbeiten. Wäre die Dame mit geeigneten Sensoren und Apps umgeben, so könnte ihr das Hinweise geben, um die Medikamente bedarfsgerecht zu dosieren.

Oder ihr Arzt hätte, ohne daß sie dessen Praxis aufsuchen muß, per Telemedizin Zugriff auf hochqualitative Daten. Im Fall von Unklarheiten könnte er sich mit spezialisierten Zentren in Verbindung setzen (wenn das nicht die Patienten selbst tut) oder würde alarmiert bei akuten Komplikationen.

Kurz: Medizin 2.0 bedeutet, daß Patient und Arzt Partner auf Augenhöhe sind. Die Gesundheitsdaten gehören dem Patienten, der sie mit erhebt, speichert und auswertet.

Dieser Paradigmenwechsel wird kommen und diese neue, bisher nie dagewesene Partnerschaft zwischen Patienten und Ärzten berührt, ehrlich gesagt, auch meine Grundeinstellungen als Arzt:

Die Schweigepflicht und das Arztgeheimnis sind Werte und ethische Prinzipien, die immer auch beabsichtigen, das besondere Vertrauensverhältnis zwischen meinem Patienten und mir herauszustellen und vor allem dazu dienen sollen, meinen Patienten vor Diskriminierung und Benachteiligung zu schützen.

Denn:

Dessen Würde ist unantastbar.

Und:
Vertrauen braucht Sicherheit.

Ein Patient muß sich sicher sein, daß seine Daten zunächst und nur ihm gehören und Personen und Institutionen darauf lediglich Zugriff haben, wenn es seiner Gesundheit dient und solange er es ihnen gestattet. Zuverlässig anonymisiert dürfen sie zu medizinischen Forschungszwecken verwendet werden, es sei denn, der Patient widersprecht dem.

Knapper und strenger kann ich es Arzt nicht formulieren. Mit weniger ist es auch nicht getan.

Die Entwicklung einer solchen verläßlichen IT-Infrastruktur ist, meiner Erachtens, eine große Aufgabe, der sich eine Zivilgesellschaft insgesamt stellen sollte. Ein Arzt kann es nicht verantworten, Gesundheitsdaten einem System preiszugeben, in dem die Gefahr besteht, daß diese von der Industrie (Apple, Google, den Krankenkassen) oder Geheimdiensten abgegriffen und ausgedeutet werden oder in dem kein ausreichender Schutz vor Manipulationen besteht: stellen Sie sich vor, das elektronische Rezept für ein überlebenswichtiges Krebsmedikament auf Ihrer großartigen eGK wird durch Hacker oder einen feindlichen Geheimdienst verändert…

Bisher ist es so:

Solange ich die Gesundheitsdaten meiner Patienten in meiner Praxis verarbeite und speichere, habe ich auch die Kontrolle über diese Daten und kann die Schweigepflicht wahren.

Wenn ich jedoch von Ihnen nun verrate, daß es quasi Standard ist, Röntgenbilder von Patienten zwischen Praxen per unverschlüsselter eMail zu versenden, dann können Sie sich vorstellen, wie gut wir Ärzte wirklich darin sind, Ihre Gesundheitsdaten im Internet nach Edward Snowden zu schützen: nämlich gar nicht.

Ärzte sind eben keine ITler und genauso fähig oder unbedarft wie jeder andere, was den Umgang mit sensiblen Daten angeht.

Viele meiner Kollegen, auch die, die das Internet natürlich privat nutzen, hoffen, daß es sie in ihrem beruflichen Alltag verschont. Und die Mischung aus Überheblichkeit und Abneigung ist nicht nur ärztlich verantwortungslos, sondern führt auch zu Fehlern – wie eben dem sorglosen Umgang mit Patientendaten.

Es ist eben ein Unterschied, ob ich als Mensch private Daten im Internet teile oder als Arzt Röntgenbilder oder Befunde meiner Patienten im Internet übermittle.

Diese ambivalente Haltung führt auch dazu, daß wir es wohl kaum hinbekommen werden, sichere IT unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu schaffen. Ein Projekt wie die elektronische Gesundheitskarte ist so typisch deutsch wie unbrauchbar:

Typisch deutsch, weil es von oben herab verordnet, unglaublich kompliziert und technisch aufwendig ist. Und völlig nutzlos im Ausland.

Dazu unbrauchbar, weil es den Bedürfnissen und Anforderungen der Medizin 2.0 nicht gerecht wird – kein Patient kann den Inhalt seiner eGK lesen oder ergänzen oder selbst darüber bestimmen, mit wem er diese Daten teilt. Letztlich digitalisiert die eGK eine paternalistische Medizin mit elektronischen Rezepten und elektronischen Arztbriefen. Dieses technologische Monster ist außerdem allein schon aufgrund seiner Intransparenz ein gefundenes Fressen, für Nerds und Hacker jeden Kalibers.

Ich bin fest davon überzeugt, daß wir es nicht schaffen werden, die Daten auf den eGKs zu schützen.

Die einzige Alternative zu diesem monströsen Industrieprojekt besteht darin, die Struktur, in der Gesundheitsdaten gesammelt, verarbeitet und gespeichert werden, zu einem freien und kollaborativen open source-Projekt zu machen, an dem sich jeder beteiligen und das jeder einsehen kann.

Das schafft nicht nur Vertrauen, sensible Daten in eine elektronischen Krankenakte zu geben, sondern ist auch Voraussetzung, diese Daten, anonymisiert, mit anderen zum Nutzen für Alle zu teilen.

Transparenz und Offenheit sind gleichzeitig der beste Schutz vor Manipulation und Ausbeutung der Daten durch Dritte.

Ich fürchte jedoch, daß wir in Deutschland von den Möglichkeiten einer persönlichen, elektronischen Krankenakte weit entfernt sind und daß die Einführung der eGK ein Irrweg ist, der uns Zeit, Geld und Fortschritt kosten wird.

Dies finde ich besonders dramatisch, wenn ich daran denke, daß wir, neben China und Japan, bereits heute eine der ältesten Gesellschaften der Welt sind. Unsere Bevölkerung schrumpft, gleichzeitig, wie wir gesehen haben, steigt der Bedarf an komplexer medizinischer Versorgung bei älteren Menschen stark an.

Ein besonders gutes Beispiel soll am Schluss stehen.

Dementielle Erkrankungen sind ein wesentlicher Grund, warum die Pflegesituation in Deutschland schon heute als prekär beschrieben wird11. Dieses Problem wird sich in den nächsten Jahren mit der Alterung der Gesellschaft deutlich verschärfen: für Deutschland nimmt man eine Verdoppelung der Zahl der Dementen von jetzt etwa 1,2- 1,5 Millionen zum Jahr 2050 an. Diese Zahlen lassen nur ahnen, welche ungeheuren emotionalen und wirtschaftlichen Folgen dies für die betroffenen Familien und die Gesellschaft hat. Der Bedarf an assistierenden (digitalen) Technologien ist also gewiß da, wenn diese helfen können.

Und das können sie:

Demenz als Krankheit ist gekennzeichnet durch ein unaufhaltsames Voranschreiten des Verlustes von Gedächtnis, Denken, Lernfähigkeit, Sprache und Urteilsvermögen. Das führt zu eingeschränkter Selbstständigkeit und Realitätsverlust mit einer Zunahme von Angst und Wahnvorstellungen.

Das Leben in Erinnerungen und die zunehmende Orientierungslosigkeit führen zu einer extremen Unruhe und hohem Bewegungsdrang, dem „Wandering“. Dies gefährdet nicht nur die Patienten selbst, weil Gefahren nicht mehr erkannt werden, sondern stellt auch eine große Belastung für Familien und Pflegepersonal dar. Wenn es uns gelänge, diese Kranken so lange wie möglich in ihrer vertrauten Umgebung zu lassen, dann ist das nicht nur billig, sondern auch recht. Es entlastet Pflegeeinrichtungen und verbessert die Lebensqualität.

Wenn es uns gelingt, einen an Demenz Erkrankten so mit vernetzten Sensoren und Apps auszustatten, daß er von diesen quasi komplett überwacht wird12, dann können wir, Familienangehörige, Pfleger und Ärzte, ihm seine Selbstständigkeit länger lassen, ihn, wann immer erforderlich, erreichen und er hat konstante, zuverlässige Hilfe im Alltag.

Apps sorgen für eine regelmäßige Tabletteneinnahme, halten ihn zur Aktivität an und lassen ihn in Kontakt mit seiner Umwelt bleiben. Gleichzeitig schlagen sie Alarm, wenn unvorhergesehene Ereignisse eintreten. Wenn man dazu die entsprechenden wissenschaftlichen Publikationen liest, dann fällt auf, wie großartig diese Möglichkeiten sind. Und es fällt auch auf, daß Probleme gelöst werden müssen: Sicherheit, Stromverbrauch und technische Zuverlässigkeit, aber auch die wichtige Frage der Akzeptanz dieser Geräte durch den Betroffenen.

Ich finde auch, daß diese Vision eines alternden Menschen, ausgestattet mit Sensoren am Körper und im Haushalt, befremdlich klingt. Jedoch wird jeder, der einen Dementen in seiner Familie hat, unmittelbar verstehen können, welche große Möglichkeiten in persönlichen digitalen Assistenten stecken13. Nicht zuletzt erhalten wir diesen Menschen länger ihre Würde.

Zum Schluß:

In der Medizin geht das Internet nicht mehr weg: vernetzte Computer werden unsere Möglichkeiten zur Prävention, Befundung, Diagnose und Therapie verbessern.

Das Verhältnis zwischen Arzt und Patient wird sich grundlegend ändern- dem Patienten gehört seine komplette Krankenakte.

Ehealth und mhealth werden gerade bei chronisch Kranken dazu beitragen, ihre Lebensqualität zu verbessern.

Die Ansätze einer Digitalisierung der Medizin in Deutschland von oben herab werden diesen Ansprüchen nicht gerecht. Vor allem, weil sie, wie die eGK, weder Vertrauen schaffen noch transparent sind. Start-ups können das zum Glück besser14.

Die Medizin der Zukunft braucht genau dies- jeder, der Daten in ein digitales Gesundheitswesen gibt, muß sicher sein, daß sie nur dort landen, wo er sie haben will.

Und so ist die Prognose für die Medizin der nahen Zukunft sehr gut. Verlassen Sie sich nur bitte nicht darauf, daß die Medizin der Zukunft im Gesundheitswesen entwickelt wird…

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit- nun freue ich mich auf Ihre Fragen und die Diskussion!

1 Tilenius S. Forbes. 2013 Sep 8. Will an app a day keep the doctor away? The coming health revolution URL: http://www. forbes.com/sites/ciocentral/2013/09/08/will-an-app-a-day-keep-the-doctor-away-the-coming- health-revolution/ (11/21/2015)

2 (11/21/2015)

3 http://www.zorgictzorgen.nl/oud-chef-mivd-wil-inzage-in-elektronische-patientendossiers-bij-terrorismebestrijding/ (11/23/2015)

4 https://www.researchgate.net/publication/274566389_East_M.__Havard_B._%282014%29._Along_came_a_spiderand_frightened_health_professionals_away_Impelling_eHealth_and_mH ealth_diffusion_by_evolving_from_the_ethics_fixation._Paper_presented_at_Medicine_2.0_World_Congress_M alaga_Spain_October_9-10_2014._Abstract_retrieved_from_httpwww.medicine20congress.comocsindex.phpme dmed2014bpaperview2196

5 Chen L, Magliano DJ, Zimmet PZ. The worldwide epidemiology of type 2 diabetes mellitus present and future perspectives. Nat Rev Endocrinol. 2011;8(4):228–36.

6 „More than two-thirds of American adults are now overweight or obese. According to one forecast, by 2020 more than half of us will be pre-diabetic or diabetic, creating a $500 billion annual drag on the economy.“ in health-revolution/ (11/21/2015)

7 https://www.researchgate.net/publication/274256537_EMPOWER-support_of_patient_empowerment_by_an_intelligent_self-management_pathway_for_patients_Study_protocol (11/21/2015)

8 Vicdan H., Dholakia N. 2012, MEDICINE 2.0 AND BEYOND: FROM INFORMATION SEEKING TO KNOWLEDGE CREATION IN VIRTUAL HEALTH COMMUNITIES in The Routledge Companion to Digital Consumption, Edited by Russell W. Belk, Rosa Llamas, © 2012 – Routledge

9 Lupton, D. 1995, ‘Perspectives on power, communication and the medical encounter: Implications for nursing theory and practice’, Nursing Inquiry, vol. 4, pp. 157-163.

10 Lim, L. S. 2002, ‘Medical paternalism serves the patient best’, Singapore Medical Journal, vol. 43, no. 3, pp. 143-147.

11 u. a. hier: Geyer, J., 2015: Einkommen und Vermögen der Pflegehaushalte in Deutschland, In: DIW- Wochenbericht, 82/14–15 (2015), S. 323–328

12 https://www.researchgate.net/publication/

281289986_Technische_Untersttzung_fr_Menschen_mit_Demenz_Zur_Notwendigkeit_einer_bedarfsorientiert en_Technikentwicklung

13 Mulvenna, M.D.; Nugent, C.D. (Hg.), 2010: Supporting People with Dementia Using Pervasive Health Technologies. New York

14 http://www.e-health-com.eu/details-news/studie-digitaler-gesundheitsmarkt-report-zeigt-startups-und-apps-erobern-das-gesundheitssystem/969e9de796501b65db9e892da61d05fa/ (11/25/2015)

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