In der Zahnmedizin haben wir mit der Prophylaxe etwas Großartiges erreicht: Wir können unsere Patienten die Mundgesundheit viele Jahre länger erhalten, kompromittierender und die Lebensqualität beeinträchtigender Zahnverlust kann entweder ganz vermieden werden oder fällt erst sehr viel später an. Wenn Zahnersatz dann doch notwendig wird, wird er später erforderlich oder trägt einem komplizierterem Ausgangsbefund Rechnung. Das ist prima- so lange der Patient unsere Praxis aufsuchen kann…

Das verkehrt sich leider allzuoft in das Gegenteil, wenn Pflegebedürftigkeit entsteht.

In einer alternden Gesellschaft ), in der auch die Zahnärzte immer älter werden ) entstehen damit Probleme, die sich mit einem „weiter so“ nicht mehr lösen lassen.

Betrachten wir verschiedene Situationen:

Zum Beispiel hat ein Patient ein weitgehend kariesfreies und intaktes Gebiss. Natürlich verändert es sich mit den Jahren, das Zahnfleisch geht zurück und die nicht vom Zahnschmelz bedeckten Wurzeln liegen wenigstens teilweise frei. Medikamente können den Speichelfluss verändern, so daß Zahnhalskaries entstehen kann. Diese ist schwer zu entdecken und oft noch schwerer zu behandeln. Dazu braucht es auch einen erfahrenen, geschickten und fitten Behandler, der nicht auch wie sein Patient seinen Zenith bereits überschritten hat.

In diesem Fall eines alten Menschen mit weitgehend erhaltenem Gebiss braucht es also einen Zahnarzt mit ausgeprägter diagnostischer Sicherheit und hoher manueller Geschicklichkeit. Zudem wohnortnah, denn weite Wege kann und mag unser Patient vielleicht ja auch nicht mehr zurücklegen. Die Voraussetzungen, daß die Babyboomer, wenn sie in etwa zwei Jahrzehnten betagt sein werden, auf solche Behandler treffen, sind schlecht. Bereits heute suchen in Westfalen-Lippe etwa 200 Praxen einen Assistenten, Bewerber gibt es aber gerade mal 20. Viele Praxen werden keinen Nachfolger finden oder es wird Versorgungszentren geben, in denen  die dort angestellten Zahnärzte nicht unbedingt den Verantwortungswillen und Einsatz vieler niedergelassener Praxisinhaber haben könnten.

Es geht noch weiter, denn Prothetik in einem solchen Gebiss kann durchaus etwas sehr anspruchsvolles sein. Anspruchsvoll heißt in der Zahnmedizin fast immer auch „braucht viel Erfahrung“… Wenn unser Patient nun außerdem pflegebedürftig wird und keine Praxis mehr aufsuchen kann, dann ist die Zerstörung des Kauorgans praktisch nicht mehr zu verhindern, denn Zahnpflege in einer Pflegeeinrichtung ist, entschuldigen Sie bitte die deutlichen Worte, immer insuffizient und nie befundadäquat.

Ähnliches gilt für einen Patienten, der aufwendigen Zahnersatz bekommen hat- ich habe es noch nicht erlebt, daß dieser gut und konsequent bei einem Pflegebedürftigen gereinigt war oder in gutem Zustand war (vergleiche dazu: http://docserv.uni-duesseldorf.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-17410/Diss_Fertig_20101005_PDFA.pdf).

Es mag eine provokante These sein, doch wäre es nicht für einen Menschen, der in die Pflegebedürftigkeit gerät, besser, rechtzeitig Totalprothesen anzufertigen? Das hat auch eine ethische Dimension, denn unter welchen Umständen ist es vertretbar, das Kauorgan eines Menschen zu amputieren? Wann wäre der richtige Zeitpunkt?

Vielleicht kann bigdata uns helfen, diese Entscheidung mit dem Patienten treffen zu können? Wenn wir z. B. vorhersagen können, wann ein Mensch dement wird, dann könnten wir auch rechtzeitig solche, zugegebenermaßen zunächst ruppig erscheinenden Maßnahmen ergreifen?

In die Zukunft eines Menschen zu schauen ist schwer. Der Verantwortung für das Wohl auch eines Pflegebedürftigen entspringt der Wunsch, es trotzdem zu versuchen. Die Medizin 1.0 hat keine guten Antworten dafür, vielleicht bekommen wir bessere mit der Medizin 2.0?

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